Offene Gesellschaft – offene Räume – gemeinschaftliche Verantwortung: Jede städtische Freifläche erfüllt einen ökologischen, stadtklimatischen, volksgesundheitlichen oder sozialen Nutzen für die Kommune, doch nicht jede Fläche ist von der Bevölkerung aktiv nutzbar. Der Trend zeigt, zur Entlastung des Freiraumdruckes werden immer öfter private Freiräume für die Öffentlichkeit nutzbar gemacht.
30. April 2020
Der Artikel wurde im Printjournal zoll+ offen (Nummer 35 / Dezember 2019) erstveröffentlicht.
Von Stephanie Drlik
Eigentlich scheint es ganz einfach zu sein: Eigentumsverhältnisse entscheiden, ob ein Freiraum privat oder öffentlich genutzt werden kann und wer für seine Erhaltung verantwortlich ist. Doch dieses duale Prinzip aus „privat“ und „öffentlich“ ist nicht mehr so klar interpretierbar, wie es einstmals war, es erfährt zunehmend Aufweitungen. Steigende Bevölkerungszahlen in Metropolen, der damit einhergehende wachsende Freiraumbedarf, hohe Qualitätsansprüche und die zunehmend eingeschränkten Haushaltsbudgets der Städte können die Schaffung und insbesondere die Erhaltung öffentlicher Grün- und Freiräume heute nicht mehr zur Gänze aus eigener Hand decken. Der öffentlich nutzbare urbane Freiraum kann sich daher nicht länger ausschließlich über kommunalen Gemeinbesitz definieren. Immer öfter kommen neue Modelle der Flächenbeschaffung und der Herstellungs- oder Erhaltungsfinanzierung zur Anwendung, die Rechte, Pflichten und Verantwortlichkeiten im städtischen Freiraum teilen. Eine sinnvolle Möglichkeit der Pflichtenteilung scheinen die privatrechtlichen städtebaulichen Verträge zu sein, durch die – den rechtlich verpflichtenden Umfang überschreitende – Leistungen von Bauträgern bindend eingefordert werden können. Auch die umstrittenen Public-Private-Partnerships bieten Möglichkeiten, bei knappen kommunalen Mitteln Infrastrukturleistungen oder nutzbaren öffentlichen Raum zu schaffen.
Privat wird (teil)öffentlich
Raumzuschnitte erfolgen jedenfalls nicht mehr ausschließlich im Kontext der Besitzverhältnisse, sondern basieren mehr und mehr auf funktionalen Überlegungen, die eine Verschiebung der Nutzungsgrenzen zugunsten des öffentlichen Raums zur Folge haben können. Der teilöffentlich nutzbare Freiraum, also jener Raum der zwar in privatem Besitz, jedoch zumindest eingeschränkt öffentlich nutzbar ist, nimmt einen wachsenden Stellenwert ein. Er wird heutzutage bei der Verfügbarmachung von Freiflächen für die Öffentlichkeit zum integralen Bestandteil des öffentlichen Freiraumsystems. Dazu müssen bisherige Raumgrenzen zwischen privat, teilöffentlich und öffentlich zu Übergängen werden. Eine Herausforderung die mittels Gestaltungselementen und räumlichen Interventionen gelöst werden kann. Die Landschaftsarchitektur muss sich also über Besitzverhältnisse hinwegsetzen, bisherige Raum-Codes umschreiben, soziale Reglements auflösen und Aneignung ermöglichen.
Das Konzept ist nicht ganz konfliktfrei, denn StadtbewohnerInnen brauchen freiräumliche Rückzugsmöglichkeiten. Um Konfliktpotenzial zu minimieren, ist neben der Aufwertung des gemeinschaftlichen Stadtlebens auf öffentlichem und teilöffentlich nutzbarem Grund auch dem Verlangen der Stadtbewohner nach Rückzug im privaten, sozial geschützten Bereich zu entsprechen. Ein funktionierendes Gemeinwesen setzt ein ausgewogenes Freiraumangebot zwischen privat und öffentlich voraus.

Teilöffentlich wird Privatgarten neu
Der starke Wunsch, einen Privatgarten zu besitzen, erfüllt sich in der dichter werdenden Stadt mit geringen Flächenverfügbarkeiten und hohen Marktpreisen meist nur für eine privilegierte Minderheit der Stadtbevölkerung, woraus ein soziales Ungleichgewicht entsteht. Das zeigt sich in Gentrifizierungsprozessen, der Verdrängungsökonomie durch Eigentumsbildung und hochpreisigen Mieten, bei denen Freiräume als aufwertender Faktor eine tragende Rolle spielen. Die große Nachfrage der Stadtbewohner nach Balkonen, Terrassen und privaten Mietergärten zu Erdgeschoßwohnungen ist Ausdruck des Wunsches nach privatem Aufenthalt im Freien. Doch das Angebot ist oftmals unbefriedigend, wodurch der öffentliche und teilöffentliche Freiraum weiter an Bedeutung gewinnt. Die Nutzungsformen bleiben darin traditionell, spiegeln aber durchaus auch neue Anforderungen wider.

Aus dem Bedürfnis nach einem eigenen Garten, aber auch nach mehr Gemeinschaftlichkeit und sozialen Kontakten in immer unüberschaubareren urbanen Agglomerationen hat sich eine neue Form des Gartens in der Stadt etabliert, der zwischen privat und öffentlich einzuordnen ist: der Gemeinschaftsgarten. Auf kommunalem, gemietetem, geborgtem, genossenschaftlichem oder gemeinschaftlich erworbenem Grund kann dem nachgegangen werden, worauf sich die Nutzergruppe vorab geeinigt hat. Wobei hier weniger wichtig scheint, wem der genutzte Freiraum gehört, als vielmehr mit wem er geteilt wird. Nutzungsrechte werden in Gemeinschaftsgärten ebenso gleichberechtigt geteilt wie Pflichten. Diesem Gedanken entsprechen auch Baugruppenprojekte, die gebäudeassoziierte Freiraumanlagen verfügbar machen, nach den Anforderungen der Wohngemeinschaft gestalten und später gemeinschaftlich nutzen und erhalten. Der Ansatz folgt dem Shared-Economy-Prinzip: Man teilt das, was alleine zu besitzen nicht leistbar wäre, und ermöglicht so Lebensqualität auf Gemeinschaftsbasis im städtischen Gefüge.

Lange Tradition: gemeinschaftliche Freiraumnutzung
Der gemeinschaftlich genutzte Freiraum greift jahrhunderte-alte Strukturen auf. Das vom Menschen errichtete und zu erhaltende soziale Kulturland hat die gesicherte Entfaltung im eigenen Lebensraum im Bereich und Schutz der Gemeinschaft ermöglicht. Die ansässige Gesellschaft überlieferte den Anspruch auf Nutzung und Ertrag. Heute formieren sich Interessengemeinschaften aus ähnlichen Beweggründen wie einst. Sie spiegeln das Verlangen nach mehr Mitsprache bei der Gestaltung des eigenen Lebensraums wider und fordern Stadtraum und Nutzungsrechte selbstbewusst ein. Dabei ist eine wachsende Bereitschaft zu erkennen, Pflichten und Verantwortung für das eigene Tun und für die Gemeinschaft zu übernehmen.

Das selbstbewusste Einfordern von Stadtraum ist auch im öffentlichen Bereich spürbar, das zunehmende Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein vermisst man dort jedoch oftmals – zumindest in unseren Breiten. Die moralische Verpflichtung des Einzelnen gegenüber der Stadtgemeinschaft, für das öffentliche Gut Verantwortung zu übernehmen, wird kaum wahrgenommen. Die fehlende Bereitschaft zur Eigenverantwortung im öffentlichen Raum erklärt sich mit der zunehmenden Größe der Städte, mit der abnehmenden Identifizierung der Stadtbevölkerung mit dem eigenen Lebensraum sowie mit der Erwartungshaltung der Bevölkerung, die selbstverständlich gewordene Standards und Serviceleistungen der Stadtverwaltung voraussetzt. Das zeigt sich auch im fahrlässigen Umgang mit Allgemeingut, wie anhaltende Vandalismus-Tendenzen in Parks, auf Spielplätzen oder an Stadtmöbeln unübersehbar veranschaulichen.
Die Verantwortung zur Herstellung, zur Instandhaltung und leider auch für die Konsequenzen des eigenen Handelns im öffentlichen Raum wird gänzlich an die Stadtverwaltungen abgegeben. Diese Einstellung mündet nicht selten in einer Art Selbstentmündigung der BürgerInnen, die sogar die Verantwortung für die eigene Sicherheit während Aufenthalt und Nutzung des Freiraumes bereitwillig abgeben. Einstmals war es noch selbstverständlich, während Starksturmereignissen den Aufenthalt eines Parks mit altem Baumbestand zu meiden. Heute setzt der selbstverständliche Hausverstand immer öfter zu Gunsten der erlernten Entmündigung aus. Denn BewohnerInnen verlassen sich darauf, dass Stadtverwaltungen einen zur Gänze sicheren Stadtraum bereitstellen. Die Dynamik hinter dieser Entwicklung ist in unseren Stadträumen ablesbar: Wachsende Sicherheitsauflagen schränken nicht nur NutzerInnen sondern auch PlanerInnen öffentlicher Räume ein.
Mehr Regeln, weniger Gestaltungsfreiheit
Die Tradition der Nutzung freiräumlichen Gemeinschaftsgutes in europäischen Städten ist lang. Auf Flächen in Allgemeinbesitz, die der dörflichen oder kleinstädtischen Gemeinschaft zur freien Verfügung standen, wurden Nutzungsreglementierungen sozial kontrolliert. Informelle Verhaltensregeln legten Nutzungsrechte, Nutzungsformen, aber auch Verpflichtungen zum sorgsamen Umgang und zur Erhaltung der gemeinschaftlichen Fläche fest. Hat diese soziale Kontrolle über den Gemeinschaftsraum im dörflichen oder kleinstädtischen Rahmen noch funktioniert, so wird es im Zuge der städtischen Entwicklung mit zunehmender Größe der Gemeinschaft und der damit einhergehenden Anonymisierung der Nutzenden schwieriger, Regeln und Pflichten informell zu transportieren und einzufordern. Festgeschriebene Reglementierungen und Konsequenzen bei Regelverstößen werden erforderlich. Sind Vorschriften zur Sicherheit der NutzerInnen und zum Schutz der Flächen jedoch formell festgelegt, bleibt nur wenig Spielraum zur Entfaltung außerhalb der Norm. Die Einschränkungen durch Reglementierungen setzen sich auch bei planenden und gestaltenden freiräumlichen Eingriffen fort und erschweren die Verwirklichung außergewöhnlicher freiraumplanerischer Gestaltungsideen im öffentlichen Raum.
Das Prinzip des Teilens – auch im Freiraum
Das Prinzip des Teilens wird wie eingangs beschrieben also auch bei der Freiraumnutzung nach und nach wirksam. Bei der Fülle an Vorhaben sollte aber künftig vermehrt auch das Teilen von Kosten, Pflichten und Verantwortung Anwendung finden, denn die Stadt scheint bei der Verwirklichung von Freiraumqualitäten mancherorts überfordert. Bürger und Bürgerinnen könnten aktiv durch Mitarbeit in den Erhaltungsprozess eingebunden werden, um so Kosten zu senken und Identifizierungsmöglichkeiten mit dem Stadtraum zu schaffen. Teilen kann für die Stadt aber auch bedeuten, Partnerschaften mit Betrieben einzugehen. Dabei handelt es sich meist um Finanzierungsgeschäfte, die Gegenleistungen und Zugeständnisse von allen Seiten erfordern. Es darf daher nicht überraschen, dass privatwirtschaftlich Agierende nicht nach Motiven des größtmöglichen Gemeinwohls, sondern nach Möglichkeiten zur Profitmaximierung handeln. Das birgt Gefahren, die jedoch durch eine starke Eigenpositionierung der Kommune als Partner, Wegweiser und Kontrollorgan minimiert werden können. Als Ergänzung zur kommunalen Freiraumbeschaffung und -erhaltung stellen kreative Finanzierungs- und Nutzungsmodelle durchaus eine Möglichkeit dar, Projekte zu verwirklichen, die sonst kaum realisiert werden könnten. Natürlich sind Sinnhaftigkeit, Wirtschaftlichkeit, Nachhaltigkeit und die Gewährleistung von ökologischen, soziokulturellen und gestalterischen Qualitäten und Freiraumstandards für jedes solche Vorhaben erneut zu prüfen. Doch das sollte ohnehin für jedes neue Freiraumprojekt im öffentlichen Raum gelten – abgelöst von Besitzverhältnissen oder Finanzierungsmodellen.

Offene Gesellschaft, offene Räume
Der Grundgedanke des freiräumlichen Gemeinschaftsgutes als zentrales Element eines identitätsstiftenden Gemeinwesens ist auch in Österreich spürbar. Ein neues gesellschaftliches Selbstbewusstsein nimmt insbesondere unsere Städte mehr und mehr als Gemeinschaftsraum wahr, der allen Bewohnerinnen und Bewohnern gehört und ihnen gleichberechtigt zur Verfügung stehen muss. Dieses wachsende Selbstverständnis und das beginnende Einfordern von mehr Grün- und Freiraumgerechtigkeit hat einen planungskulturellen Wandel nach sich gezogen, der versucht, interdisziplinär und kooperativ zu agieren und das Recht der Menschen auf Stadtfreiraum ernst zu nehmen. Von Seiten der Stadtverwaltungen geschieht dies etwa durch Festlegen und Einfordern von Freiraumbedarfskennwerten bei Quartiersentwicklungen. Gerade die aktuellen Wiener Stadterweiterungsprojekte lassen einen gewissen Stellenwert des öffentlichen Freiraums und seiner Nutzerinnen und Nutzer erkennen. Bei divergierenden Raumansprüchen wird immer öfter zugunsten des Freiraumes und somit zugunsten des Gemeinwohls entschieden. So wird etwa der motorisierte Individualverkehr als dominierendes Element des öffentlichen Raums zunehmend hinterfragt. Auch die Zugänglichkeit und Durchlässigkeit öffentlicher Räume ist in Wien Voraussetzung von baulichen Entwicklungen und wird mittlerweile auch immer öfter bei Projekten privater Investoren mit Hilfe von Raumordnungsinstrumenten durchgesetzt.

Der öffentliche Raum ist kultureller Spiegel einer Gesellschaft, der Blick in den Spiegel Österreichs zeigt in Sachen Grün- und Freiraum sicherlich noch kein perfektes Bild. Der alteingesessene Wunsch der BürgerInnen nach einem Eigenheim mit Thujen-umzäuntem Garten und Garage wiegt schwer bei der Gestaltung des Immobilienmarktes. Außergewöhnliche Projekte, die eine offene Gesellschaft widerspiegeln und neue Formen des Besitzens und Teilens ermöglichen, sind nach wie vor rar. Das liegt aber weniger an unkreativen PlanerInnen oder BewohnerInnen, sondern vorallem an der Wirtschaftsdynamik westlicher Industriestaaten des voranschreitenden 21. Jahrhunderts. Schließlich ist das Bestreben nach Gewinnmaximierung nach wie vor handlungsleitend, soziale oder ökologische Anforderungen verkomplizieren diese Denkweise und werden daher dem direkt ablesbaren Profit untergeordnet. Dabei wäre nur etwas Weitblick und eine längerfristige Rechnung notwendig. Denn, wenn es um Grün- und Freiraum geht, sprengt der volkswirtschaftliche Wert in Hinblick auf Volksgesundheit, Klima, Biodiversität und Umwelt jede Kosten-Nutzen-Rechnung – im positivsten Sinn.
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