Die mittlerweile schon beinahe legendäre Kolumne des Herrn Martin im Fachjournal zoll+ beleuchtet den Themenschwerpunkt des jeweiligen Heftes aus einer etwas anderen Perspektive, als der rein fachlichen. In zoll+ frech bekommen wir eine Lektion fürs Leben, die sich nicht nur Eltern, sondern auch Politiker*innen zu Herzen nehmen dürfen!

Die gesamte Ausgabe zoll+ frech / Nr.40, Juni 2022 können Sie HIER BESTELLEN

Wenn ich an das Wort „frech“ denke, dann fallen mir zuallererst meine Kinder ein. „Du freche Laus!“ aus meinem Mund kann schon mal eine Verfolgungsjagd durch die ganze Wohnung einleiten, inklusive Raufen oder abschließender Kinnzelung (= mit dem Kinn kitzeln, die Kinder lieben es).

Das setzt voraus, dass wir alle mehr oder weniger ausgeschlafen sind und der Stress-Level niedrig ist. Nur dann gelingt es, dass wir den Konflikt so auflösen können.
Je höher der Stress und die ­Müdigkeit, desto persönlicher ­nehme ich die Frechheiten der kleinen Mitbewohnerinnen und desto eher artet das Ganze in Schreien, Heulen und Türenknallen aus. In diesem Sinn ist Frechsein ­Herausforderung der Mächtigen und Spieleinladung zugleich. ­ Damit das Ganze gut ausgeht, müssen die Frechdachse Vertrauen ins (über-)mächtige Gegenüber haben, und als herausgeforderte Person muss ich mich so gut im Griff haben, dass ich die Provo­kation, das Aus-der-Reserve-­Locken als Trainingsmöglichkeit zur Konfliktlösung sehen kann und nicht als Frontalangriff, bei dem es um alles oder nichts geht. Leitspruch für die Mächtigen: „Ich bin sehr viel stärker als du und ich passe gut auf dich auf!“ Damit Konfliktsituationen nicht eskalieren, brauchen wir ein Klima von Vertrauen, Sympathie, gegenseitiger Wertschätzung. Sonst besteht die Gefahr, dass beim Mächtigen im Angesicht der Frechheit die Scheuklappen zugehen, das Reptilienhirn übernimmt und er eine Gewaltspirale in Gang setzt, bei der am Ende alle als Verliererinnen dastehen.

Wir brauchen dabei den ­Konflikten nicht aus dem Weg zu gehen, denn als Verheißung für uns Mutige, die wir die Auseinandersetzung suchen, wartet eine andere Spirale: die Spirale des Erkenntnisgewinns, des „Da hab ich jetzt wieder etwas gelernt“, und zwar über mich und mein Gegenüber. Take that, Frontalunterricht mit andauerndem Abfragen von Faktenwissen!
Eine gute Auseinandersetzung beginnt damit, sich auseinander-­zu-setzen, also auf eine Distanz zu gehen, die Kommunikation zulässt, aber physische Gewalt vermeidet. Damit Sie aus der Lektüre dieser Zeilen auch was Praktisches mitnehmen können, folgender Pro-Tipp und Beweis dafür, dass die Welt ein besserer Ort wäre, würde sie von Elementarpädagog*innen regiert: das 3-2-1 der Konfliktlösung. Drei Schritte zurück, zweimal tief durchatmen, einen positiven Gedanken schicken.

So, und jetzt kommen wir zum wichtigsten Punkt: Frech UND mächtig gleichzeitig geht nicht. Zumindest nicht auf lange Sicht. Irgendwann kommen der U-Ausschuss und die WKStA und klopfen dir auf die Finger. You can fool some people ­sometimes, but you can’t fool all the people all the time. Mit dem Pöbel gesprochen: Ich liebe das.

Herzliche Grüße
Herr Martin

PS: Der Soundtrack zu dieser ­Kolumne: „Get Up, Stand Up“ von Bob Marley.

Herr Martin war schon Kinder- und ­Jugendgruppenleiter, Mathematik-Trainer, Musicalautor und -darsteller, Regie­assistent, Inspizient und Verkehrsplaner. Seit 2019 ist er als DI Martin Niegl mit seiner Firma HappyTree IT als IT-Consultant tätig. Herr Martin lebt und arbeitet in Wien.
Kontakt: herrmartin@zollplus.org

Illustration: Sonja Andrzejak